Publikation: Leipzig Protestatlas: Text Bild Karte

Leipzig als Zentrum Neuer Musik

Ende der 50er Jahre war die Situation für Komponisten, die sich nicht auf der Linie des sozialistischen Realismus bewegten oder gar mit dem »Formalismus« westlicher Prägung liebäugelten, problematisch. Kein geringerer als Hanns Eisler hatte in der Debatte um die Frage, wie die Neue Musik einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann, verkündet, dass die Schönberg-Schule nun »geschlossen« werde. Paul Dessau, der sich bis zu seinem Tode im Jahr 1979 fast immer schützend vor die jungen avancierten Komponisten stellte, hielt mit den Worten dagegen: wie man denn eine neue Gesellschaft mit alten Methoden aufbauen solle. Als Politbüromitglied Kurt Hager schließlich, nicht unbeeindruckt vom Charisma des mächtigen Dessau, meinte »nicht einen Klang, nicht eine Farbe wollen wir dem Gegner überlassen«, waren dann auch offiziell die Weichen für eine neue Offenheit im Umgang mit der zeitgenössischen Musik gestellt.

Jeans und ungebügelte Hemden

In dieser, wenngleich kurzzeitigen Aufbruchstimmung, bildete sich in Leipzig ein regelrechtes Zentrum der zeitgenössischen Musik. Der Amtsantritt des kompromisslosen Dirigenten und Streiters für die Neue Musik, Herbert Kegel (ab 1953 in Leipzig Dirigent des Großen Rundfunkorchesters) und seine legendären Orchesterkonzerte in der Kongresshalle, die das Publikum nicht selten in Scharen verließ, bildeten dabei eine wichtige Basis für engagierte Aktivitäten meist junger Musiker.

Mangels eines Podiums für neue Kammermusik gründeten 1970 der Komponist und Posaunist Friedrich Schenker, der Oboist Burkhard Glätzner und weitere Mitglieder des Leipziger Rundfunk-Sinfonieorchesters die ‚Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler«’. Die ersten Konzerte fanden in der Leipzig-Information am Sachsenplatz und in der Alten Börse statt, später etablierte die »Gruppe« die Rathauskonzerte. Der Ruf, der dem Ensemble vorauseilte, war bereits Mitte der 70er Jahre legendär, zumal immer das Damoklesschwert des »Auftrittsverbotes« über all ihren Aktivitäten schwebte.

Die Kulturfunktionäre und ihre (auch komponierenden) Vollstrecker tobten, dass derlei »Neutönerei« und provozierendes Auftreten in Jeans und ungebügelten Hemden nichts mit dem »Bitterfelder Weg«1 gemein habe. Gleichwohl: der Geist des Oppositionellen, des Kompromisslosen, der sich vor allem mit Komponistennamen wie Friedrich Schenker, Reiner Bredemeyer, Georg Katzer, Paul-Heinz Dittrich – um nur einige zu nennen – verbindet, stand auch unter prominentem Schutz und mit zunehmender Präsenz der acht Musiker im westlichen Ausland wurde die »Gruppe« auch unantastbarer.

Auftrag erfüllt

Mehr als 250 belegte Uraufführungen von Komponisten und Komponistinnen aus der ganzen Welt, Konzertreisen durch Europa, Asien und Amerika: die Bilanz der Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler« kommentiert Ensemblemitglied Sannemüller rückblickend mit den knappen Worten: »Auftrag erfüllt«. 1992, das Jahr der Auflösung, brachte neue Herausforderungen: u.a. gründeten Mitglieder des Ensembles gemeinsam mit Steffen Schleiermacher (der wiederum das Ensemble Avantgarde ins Leben rief) das Forum Zeitgenössischer Musik (FZML), das seit 1994 von Gerd Schenker, Matthias Sannemüller und Thomas Chr. Heyde (ab 1997) betreut wird und in seinem Selbstverständnis als unabhängige Plattform für Neue Musik durchaus Analogien zur »Eisler-Gruppe« aufweist.

Quellen:
Glätzner, Burkhard und Kontressowitz, Reiner (Hrsg.), (1990): Spiel-Horizonte, Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler« 1970-1990, Leipzig
Brixius, Peter (2004): Im Minenfeld der Termini und der Kulturpolitik, Musik in Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts – Zu einem Symposium in Wuppertal. Neue Musikzeitung, 53. Jahrgang, Seite 47.

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1 »Bitterfelder Weg«: Arbeiter und Bauern an der Seite der Künstler.
Auf den so genannten Bitterfelder Konferenzen (1959 und 1964) wurde der Versuch unternommen, die von Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED erhobene Forderung »die Arbeiterklasse muss die Höhen der Kultur stürmen« in Programmen zu beschließen. Eines der bekanntesten Beispiele ist »Kumpel greif zur Feder«.

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Publikation: Positionen

Ganz gleich, ob man meint die Festivallandschaft einer generellen Kritik unterziehen zu müssen: In erster Linie muss die Anerkennung der Tatsache stehen, dass die Vielfältigkeit der Erscheinungen, die sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren herausgebildet hat, grundsätzlich positiv zu bewerten ist. Kritik kann also nur inhaltlich motiviert sein, sich mit dem Erscheinungsbild, der Verhältnismäßigkeit öffentlicher Wahrnehmung konzeptionell-inhaltlichen und administrativen Fragen auseinandersetzen.

Die musikalische Avantgarde und ihre inzwischen reichlich saturierten Proteges schufen mit den bekannten Festivals, Kursen und Schulen für Neue Musik seinerzeit notwendige und wichtige Zentren, welche dem Austausch und der Kommunikation von Trends dienten - man diskutierte, feierte (oftmals auch sich selbst) und ignorierte sich oder hielt sich bewusst Abseits des determinierten Geschehens, das seine Authentizität und Notwenigkeit vor allem im “anders sein” definierte. Die Pflege der Ernsten Neuen Musik erhielt spätestens dann Risse, als sich manche Kunstwerke als nicht mehr als so recht tauglich für die in den Kult- und Bildungsstätten gepflegten Rituale und Theorien erwiesen - also die Werke oder Komponisten gewissermaßen nicht mehr den richtigen Ton trafen. Die Reste jener Hochkultur sind (hochsubventioniert und meist an mächtige Institutionen gebunden) auch heute noch zu bestaunen, wenn auch ihre Ränder in den 80er und 90er Jahren ausgefranst sind, was nach außen den Eindruck von Pluralität erweckt.

Grundsätzlich ist zu fragen, ob das Musikfestival, als Ansammlung von Kompositionen der E¬-Musik, die mehr oder minder den tradierten Genrebegriff bedienen, in seiner stringenten Form überhaupt noch tragbar ist, denn die Tatsache, dass Klangkünstler auch Komponisten; Skulpturen, Hörräume, Installationen und Interaktionen auch Kompositionen sind und die U¬-Musik sich längst nicht mehr so einheitlich als die Musik der anderen Seite bezeichnen lässt ¬zumal sich die “andere Seite” wesentlich widerspenstiger und aufgebrochener präsentiert -, kann kaum übersehen werden; genauso wenig wie der Fakt, dass zeitgenössische Musik, wie sie zu großen Teilen in den traditionellen Musikfestivals präsentiert wird, im öffentlichen Bewusstsein so gut wie nicht verankert ist. Es wird allerdings wenig unternommen dem abzuhelfen, mit neuen Konzepten, Personen und flexiblen Strukturen, die über die Antizipation oder besser gesagt den “Einkauf’ des “anderen” hinausgehen. Auffallend ist des Weiteren die Tendenz intermedialer Produktion, die das Attribut “Einbeziehung” kaum noch rechtfertigt, da additive Verfahrensweisen den traditionellen Werkbegriff längst aufgehoben haben. Genau so aber funktioniert - und der Vorwurf kann nicht an die Rezipienten gehen, sondern muss die Macher treffen - das Musikfestival von heute, das manche Werke allein mit seiner Darstellung innerhalb fest definierter Umgebungsbedingungen einer Rezeption unterwirft, die kaum über den Ansatz “Musik mit. . . ” hinausführt, was letztendlich von der Substanz mehr abzieht als es hinzusetzen würde.

Man kann hier - und dies ist durchaus nicht nur negativ gemeint - von Musikmuseen sprechen. Werke werden ausgestellt, im Feuilleton und Programm besprochen, ihr Wert festgestellt. Das interessiert die Macher, die davon leben und die Künstler, die möglicherweise davon profitieren, indem sie ihren Marktwert definieren und das (Fach-)Publikum hat die Ehre diesen Prozess zu begleiten. Von Diskurs, der echten Keimzelle künstlerischer Produktion, kann kaum die Rede sein. Diskurs hieße nämlich, die Werke nicht wie in einem Zoo auszustellen und noch ein wenig Erlebnispark drumherumzubauen, sondern Diskussion, Konfrontation und somit auch Positionierung aktiv zu befordern - sowohl zwischen den Künstlern und Machern als auch ihren Rezipienten. Trends, die vormals Personen-Kunstprodukte einer autonomen und sich immer wieder selbst beschreibenden Klientel waren, stehen so sehr schnell auf dem Prüfstand.

Allerdings auch nur dort, wo nicht die kümmerlichen Reste des Bildungsbürgertums, sondern ein breit-interessiertes und vor allem auch junges, unbefangenes Publikum angesprochen wird. Es ist manchem der alteingesessenen Festivals zu wünschen, dass sie diesen Schritt gehen - ob die Administratoren, also die Rundfunkanstalten, Verlage, Ensembles und Künstler, die hinter diesen Strukturen stehen, dies allerdings mittragen, bleibt fraglich.

Nun stellt sich die Frage, ob es die jungen Festivals sind, die oft das “Media” im Namen oder dem Programm tragen, welche die Lösungen parat haben?

Zweifellos gaben und geben sie Leitlinien vor; allerdings ergeben sich hier ganz andere Frage¬und Problemstellungen, die untrennbar mit dem Nährboden verbunden sind, auf dem die Festivals entstanden.

In erster Linie nämlich basiert ihre Struktur auf der Erkenntnis, dass die Geschichtlichkeit eines fortgeschriebenen Ereignisses, Pluralität und aufgebrochener Autonomie hinderlich ist, was grundsätzlich kein zu verurteilender Ansatz ist, lässt er doch den Freiraum für das Reagieren auf gesellschaftliche Fragen und künstlerische Positionen zu. Doch genau dies passiert selten bzw. geht im allgemeinen Pluralitätsdesign allzu oft unter. Der Fehler oder der Trugschluss, der sich mit Permanenz hält, ist der, dass immer noch angenommen wird, dass viele Metathesen in einem offenen Ereignisraum viele Thesen erzeugen. Der Kunst ist eben nicht nur sensitives Fragenstellen, sondern auch Polarisierendes immanent. Allerdings entsteht oft ersterer Eindruck, verbunden mit einer gewissen Kälte und Trostlosigkeit medialer Präsentation. Man sollte nicht verkennen, dass das demokratisch-pathetische sich “in der Mitte versammeln”, was Postmoderne so zündend legitimiert hat, der Darstellung von Kunst und ihrem Platz in der Gesellschaft wenig hilfreich ist und die Gefahr einer gehoben-intellektuell dekorierten Wirklichkeit im Festivalformat oft nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Wo “Mitte” ist, das beschreiben die kreativen Ränder - nicht im Schwarz/Weiß-Format einer Avantgarde- oder Moderne-Definition, nicht als der Beschreibung der Wirklichkeit als Komplexitätstheorie und auch nicht im Sinne immanenter Kritik, sondern als komplexe Sicht, die sich vor allem durch eins definiert: den Abstand und die Transzendenz, den die klare Definition und vor allem die Anerkennung der Einzelfaktoren vorgibt und letztendlich beschreibt.

Es geht - um es konkreter zu sagen - nicht darum, die politische Kunst oder einen neuen Objektivismus wieder zu beleben; es geht auch nicht darum, Themen wie Sozialität, Sexualität, Religiosität, Lifestyle, Angst etc., die Kunstwerke zu allen Zeiten beleuchtet haben, einseitig in den Vordergrund zu stellen; es geht in erster Linie darum, das Tabu zu durchbrechen, dass künstlerische Positionen, Aussagen und Darstellungen immer wieder einer postmodernen “anything goes”-Rhetorik unterworfen werden und Themen, die vorhanden sind, derart dekonstruiert oder per definitionem “das System, was das Werk kritisiert, dem gehört das Werk selber an” ad absurdum geführt werden, das am Ende nur noch der Abglanz des ursprünglichen Anliegens übrig bleibt. Die Angst vor der Verifikation und feuilletonistischer Zynismus sind die eine Seite der Medaille. Es gibt allerdings auch noch eine andere.

Die künstlerische Positionierung, die sich derzeit abzeichnet, ist ein X-ismus, wobei das “X” für eine Variable steht. Diese beschreibt klar definierte Themen oder Eigenschaften, meist dual oder in Form eines Netzwerks und das interessante hierbei ist das Produkt bzw. die Entität, die entsteht, wenn diese Variablen definiert(!) sind. Nicht die Relation im komplexen System steht im Vordergrund, sondern der Aggregatszustand, den die jeweilige Definition der Variablen hervorruft.

Es ist - und damit zurück zu den Festivals - ganz gewiss nicht so, dass es an künstlerischen Positionen oder Werken mangelt, die sich diesen Fragen gelassen, nachdenklich, erschreckt, kritisch oder begeistert zuwenden, nur gehen sie noch völlig unter, treffen nicht den richtigen Ton, nutzen oft Mittel, Klänge und Bilder, wo so mancher Kulturheroe die Nase rümpft oder kommen scheinbar so alltäglich daher, dass sie glatt übersehen werden.

Vielfalt kann Werke genauso ersticken wie die Art der Präsentation, d.h. wie Werke unter dem Deckmantel von Pluralität, aber eigentlicher Angst vor Definiertheit, in einem Festival wahrgenommen werden. Und da Kunstproduktion sehr wesentlich von Festivals, den oft dazugehörigen Wettbewerben und ihren Schulen initiiert ist, darf ebenso wenig der Fakt übersehen werden, dass damit, wie man ein Festival macht auch oft schon beschrieben ist, welches Erscheinungsbild die Werke haben. Die Tatsache einer durch Globalisierung und destrukturierte Kulturwertigkeit aufgebrochene Identität auch von Ereignissen wie Festivals, enthebt diese nicht der Festlegung eines Verfahrens, das - unter Anerkennung künstlerischer Individualität - vor allem aus Selektion besteht. Und Selektion muss heißen oder heißt vor allem Polarisieren. Und was da selektiert wird, ist dann noch immer schizophren und surreal genug, um unsere Lebenswirklichkeit konsequent abzubilden und zu hinterfragen - Visionen und Trends, wie der oben beschriebene, nicht ausgeschlossen. . . .

Das Design bestimmt das Bewusstsein; und Kognition und Konsequenz dieser unumstößlichen Tatsache unserer Mediengesellschaft steht in gleicher Weise auf der Tagesordnung des “wie mache ich ein Festival”, wie eine klare inhaltliche Definiertheit. Ein Blick auf so manches Musikfestivalplakat, -Programmheft oder -Intemetseite; ein Blick darauf, an welchen Orten, in welcher Verlaufsform und nach welchen inhaltlichen Gesichtspunkten Musik stattfindet; ein Blick darauf, wie welches Publikum zu Verhaltensregeln gezwungen wird, wie man sich fühlt und mit welchen Sinnen man wie angesprochen wird, wenn man ein Festival besucht, dies macht schnell die kleinen aber sehr gewichtigen Unterschiede deutlich.

Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass Kunst- und Musikfestivals in der jetzigen Event¬-Kulturlandschaft nicht zur Disposition stehen können und dürfen, so sie ihre Bestimmung als Träger differenzierter Identitäten, nicht einseitiger Novitäten und opportuner Individualismen erfüllen; so sie und ihre Macher das Unvermittelte zu vermitteln in der Lage sind und das Kulturgut nicht ängstlich einsperren in den goldenen-designten Käfig; so sich die Macher mehr darüber im Klaren werden, welch immense gesellschaftliche Verantwortung damit einhergeht, aber welche Chance es auch ist, Nährboden für Produktionen zu sein.

Bewusst zu polarisieren; Zielrichtung, Inhalt und Positionen immer wieder auf den Prüfstand stellen, das ist nicht jedermanns bzw. jedes künstlerischen Leiters, Dramaturgen oder sonstigen Machers Sache, hat aber viel mit einer binnen kürzester Zeit veränderten Lebenswirklichkeit zu tun. Diese beschreibt und erfordert nämlich nicht den bunten Media-Rummel der inzwischen gealterten, „jungen” Festivals, die ihre Zeit intensiv und überladen ausschöpften und - wie ihre Mutter der Gedanken, die Postmoderne - nun gewisse Erschöpfungserscheinungen zeigen. Und sie erfordert noch viel weniger die hochsubventionierte Starrheit der alteingesessenen Festivals, deren künstlerischer Opportunismus jene Blüten treibt, von denen viele so überaus selbstverständlich gut leben - aus dieser Richtung ist inhaltliche und strukturelle Innovation, geschweige denn Thesenhaftes oder gar Visionäres vorläufig nicht zu erwarten.

Thomas Chr. Heyde, August 2002

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Publikation: Neue Musikzeitung

Die Zeit, von der man sich einigte, sie als Postmoderne zu bezeichnen, hat neue Qualitäten erreicht. Während in der langen Zeit des Fortschreitens die Moderne ihre ungeheuerlichen Umwälzungen vollzog, waren die Protagonisten der Neuerungen dazu verdammt zu Verwaltern der Gefängnisse ihrer im Postmodernen Kontext relativierten Ideen zu werden, so lange, bis sie, teils unglaubwürdig, teils ernüchtert, das Handtuch warfen oder sich mehr oder weniger anpassten. Die Kinder der Neuerer schlugen die Schlacht und die Enkel spielen nun im globalen Netz mit Meinungen, Ansichten und Positionen. Planlos, ziellos, ästhetizistisch, ohne “neue” Impulse, so nörgeln die Kritiker; individuell, tautologisch, kontextuell, meinen die Hoffnungsvollen und Interessierten. Doch ist die Lage für jene, die Erscheinungen im musikalischen Kontext präsentieren, die Komponisten, tatsächlich ernüchternd, tatsächlich ohne Aussicht und Perspektive?

Nein, in vielerlei Hinsicht nicht, doch Perspektiven, von denen zu reden ist, Hoffnungen, die sich bieten, haben nahezu nichts mehr mit den Erscheinungen und Strukturen zu tun, in denen Neue Musik sich lange darstellte (nüchtern und ohne die bekannten Vorbehalte betrachtet). Längst ist es nicht mehr das Feuilletonerprobte und müde “anything goes” der Jünger der Postmoderne oder das “Es gibt keine Wege, aber wir gehen” der bekehrten Avantgardisten, was als der alleinige Weg in Betracht kommt, es sind nicht mehr die Festivals und Wettbewerbe, die so in ihrer verdienstvollen Elitenkultur so Bedeutendes erkannten und förderten und es sind auch nicht oder mit wenigen Ausnahmen die gediegenen Ensembles Neuer Musik und die bedeutenden Verlage, die ein Fortschreiten garantieren - ohne dass hier überhaupt die Frage, was Fortschritt in musikalischen Kontexten ist, berührt werden soll.

Um neue Wege gehen zu können, Tendenzen zu entdecken, müssen Fragen nach Strukturen und Umgebungsbedingungen und Ihren Bedeutungen gestellt werden.

Lange stand eine Aspekt vor allen anderen im Vordergrund: das Material als ästhetisches Produkt und Leihgabe scheinbarer Inhalte. Dabei wurde völlig übersehen oder ängstlich umgangen, dass es neben der einen Verpackung auch noch andere existierten, denen sich nicht nur die musikalische Konkurrenz sondern auch die anderen Genres, denen das Selbstverständnis und Erscheinungsbild als Sparte nie so hemmend war wie der ernsten-zeitgenössischen Musik, längst zugewandt hatten. Der Prozess der Sichtung von Material - auch und besonders in seinen ästhetischen Spiegelungen - emanzipierte zwar in materialästhetischer Hinsicht, hatte aber letztendlich nur zur Folge, dass aus der scheinbar gewonnenen Freiheit nur ein neues Verdikt erwuchs, das deswegen so schwer zu durchbrechen ist, weil es scheinbar die Freiheit an sich impliziert, inklusive historischer, soziologischer und ästhetischer Kontexte. (Übrigens ist das “Verdikt” nicht nur aus seinem scheinbar so grundlegenden demokratischen Selbstverständnisses heraus so schwer zu kritisieren, sondern auch deshalb, weil die “Gegenseite”, die im Verständnis der jetzigen Generation möglicherweise gar nicht mehr an neuen Polaritäten interessiert ist, sich stets des Vorwurfs der Marginalisierung komplexer Vorgänge zu erwehren hat.)

Das “Diktat” blendete Fragen nach Inhalten völlig aus, genau wie die Frage nach ihrer Darstellung. Wobei hier jedoch nicht das “klassische” Verständnis von Thematik gemeint ist (vor der und deren Tendenz zur Simplifizierung zu recht zu warnen ist, da sie weder Spiegel der Umgebung noch Perspektive ist). Themen, wie Politik, Rasse, Klasse, Sexualität, Sozialität, die in Bereichen der bildenden Kunst, des Theaters und der Literatur längst in neuen Formen von Brachial, bis hin zu verwirrender Doppeldeutigkeit Einzug gefunden haben, überlässt die zeitgenössische Ernste Musik dem großen “Feind”, der populären Musik oder den anderen Genres, ohne sich auch nur im entferntesten darüber bewußt zu sein, dass der “Feind” und die Konkurrenz längst Freund jener ist, derer die Neue Musik so sehr bedarf: Dem kritische Potential an Zuhörern und Rezipienten, das anderswo seinen Platz gefunden hat. Ob in nun in z.B. Clubs oder in Festivals und Konzerten, die die Grenzüberschreitung nicht propagieren, weil sie sie implizieren, und zwar nicht nur was das reine Werk, sondern auch was eben jene Umgebungsbedingungen betrifft. Das Publikum - das junge Publikum insbesondere - ist nicht nur gebildeter als dass es von so manchem Lehrmeister der Neuen Musik mit wohlfeilen Worten belehrt werden müsste (besonders, wenn es hinter dem sicher ehrlichen Ringen die Inhalte sucht), es ist vor allem ästhetisch in höchsten Maße geschult. Geschulter als jene, die zur Aussage berufen sind.

Der verzweifelte Versuch, ein wenig Mainstream zu machen, Strukturen aufzuweichen, indem man Grenzüberschreitendes dezent einbezieht (oft bemüht, sich ästhetisch und inhaltlich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen), entbehrt oft nicht einer gewisen Peinlichkeit und Hilflosigkeit, weil in Werken und Orten längst anderswo etabliert. In Formen und Strukturen, wo man nicht mehr von “Einbeziehung anderer Medien” oder der Gegenüberstellung selbiger spricht, sondern tatsächlich einem Componere - mit all seinen Schwächen, Populismen und Spielereien. In manchen Zusammenhängen kann man nicht mehr auch nur annähernd von einem determinierten Bild des/der KomponistIn ausgehen, da es sich längst zu einem komplexen Künstlertypus gewandelt hat - auf diesen zu reagieren, ist eine neue große Herausforderung, den er zeigt sich nicht nur skeptisch gegenüber geschlossenen und “anerkannten” Systemen, sondern auch äußerst zielstrebig in der Umsetzung seiner Ideen, mit wachsender Tendenz zur losen Vernetzung.

Doch die Systeme haben auch auf Herausforderungen ganz anderer Art zu reagieren: Denn die Gleichzeitigkeit von historischen Strukturen und Sinnbildern mündet bekanntermaßen nicht selten in komplexe Systeme musikalischer Art, die von wissenschaftlichen Ansprüchen bis hin stilistischer Vielschichtigkeit ihr theoretisches Feld ausbreiten. (In diesen Komplex fällt übrigens genauso die Tendenz zur Simplifizierung der kompositorischen Mittel, was zum Einen zur bewußten Banalisierung und zum Anderen zu einer Neubewertung von musikalischen Grundwerten und inhaltlichen Fragen inklusive ihrer Darstellung reicht-beide Fälle mit häufiger Tendenz zur Mehrdeutigkeit.)

Jedes dieser Systeme schaffte sich (nicht selten in Verbindung mit akademischen und institutionellen Strukturen) seine eigene Enklaven, die von Bedeutung und Wichtigkeit im Kontext waren - so sie sich denn im Austausch mit anderen Systemen befinden. (Denn zu sagen, man hätte hierbei das System des Komponierens gefunden, ist schlichtweg Unfug, denn keine, noch so komplexe Einheitstheorie, kann auch nur annähernd ein künstlerisch-theoretisches Lebens- oder Weltbild sein.)

Die Halbwertzeit dieser “Ordnungen” war und ist häufig aber länger als ihre eigentliche Resonanz, was nicht nur mit den Systemen an sich, sondern vor allem mit der Trägheit des jeweilig dahinter verborgenen Ordnungssystems zu tun hat. Es ruft zu Recht jene auf den Plan, die Konsequenzen längst gezogen haben und um die Darstellung von Perspektiven und divergierenden “Ordnungen” bemüht sind; mit dem wesentlichen Unterschied, dass “Ordnung” sich hier nicht mit einem Bekehrungs- und Belehrungsmythos verbindet, der - wenn er als allgemeingültiges Prinzip nicht sich befruchten lässt oder andere befruchtet - seine opportunen oder egomanen Züge kaum verbirgt, sondern eher eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit Wechselwirkungen pflegt, ja, geradezu benötigt und nicht im mindesten der Gefahr erliegt, dass grundlegende Prinzipien berührt werden.

Die traditionelle Elite, die schon die Diskussion darüber, ob über die Systeme zu debattieren sei, oft als einen Angriff auf die Kultur schlechthin sieht und somit das Problem hin zu einer Debatte verschiebt, die erst im zweiten und dritten Schritt wieder von Bedeutung wäre, muß - will sie nicht völlig überrollt werden von tatsächlich unkoordinierbaren freien Strukturen und kommerziellen Dienstleistungsmechanismen - sich dem längst gesellschaftlich relevanten Diskurs über die Konsequenzen der Auflösung fixierter Modelle stellen.

Wo die, die das Wort “Vernetzung” allzu häufig im Mund führen meinen, dass mit Klanginstallation, Video und gelegentlich ein wenig DJing im kahlen Musentempel das Problem gelöst sei, sich weiter auf den Sonnenbänken der Selbstgefälligkeit und des Beamtentums oder des resignierten Händehebens räkeln, muß man tatsächlich um die Zukunft einer freien, vielleicht einer neuen, mit Sicherheit aber einer sprachbegabten Musik mit Tendenz zum Diskursiven, mit Lust am Widerstreit und an Widerständigkeit fürchten. Innovation entsteht nicht in den abgelebten Zentren der Hochkultur und in Zukunft auch nicht aus ihnen heraus, wenn ein zutiefst hemmender Antagonismus als Resultat von unreflektierter Wechselwirkung zwischen Systemen (die mit Musik- und Hochschule, Verlagen, Festivals, Ensembles, Fördermaßnahmen, Aussendarstellung etc. benannt werden müssen) bestehen bleibt.

Die Kritik also, dass keine Zeitrelevanz mehr in neuen Kompositionen vorhanden ist, ist also keineswegs den Komponisten alleine anzulasten, versuchen doch eben jene ihren Hang und Drang nach Aussagen dem anzunähern, was ihnen die Chance zur Darstellung bietet. Wird sie ihnen nicht geboten oder ist die Widerständigkeit so groß, dass der in erstarrten Strukturen und Konzepten nötige Opportunismus nicht greift, dann bleiben nur noch zwei Möglichkeiten: Eigeninitiative oder Verstummen.

Wenn das Problem, dass in Festivals Neuer Musik allein alte Herren (Frauen sucht man ja nicht nur in den Programmen meist vergebens) über Programminhalte entscheiden, in einer Zeit in der selbst ein Mittzwanziger Schwierigkeiten hat zu folgen und sich die wenigsten der Jungen anmaßen würden, alle Bereiche der Zeitgenössischen Musik beurteilen zu können; wenn das Konglomerat aus alten und neuen Konzepten, dem “der war jetzt auch mal wieder an der Reihe” und dem hilflosen Protegieren von Epigonen einstiger Größen und wenn das Fördern von Kompositionssystemen, die das “sich rückversichern” und Konformität zum obersten Prinzip erheben weiter Bestand hat, dann brauchen sich die Verantwortlichen über massive Kritik als Folge inhaltlicher Trostlosigkeit nicht zu wundern. Genauso wenig darüber, dass junge Künstler in der Eigeninitiative mehr Chancen sehen, mit der Folge, einer oft massiven Abgrenzung von allen Mechanismen und Strukturen, in denen Zeitgenössische Musik mehr oder weniger funktioniert hat. Nur die Ahnungslosen, Blinden und Gutgläubig-Naiven bestürzt es, dass die, die Initiativ- und Innovationspotential haben und daraus mit viel Mühe Aktivitäten ableiten, sich nicht mehr aufgerufen fühlen, Gemeinsamkeiten mit vormals etablierten Institutionen und Strukturen zu suchen und Türen einzurennen, die fest verschlossen sind. Sich über Muzak, akustische Umweltverschmutzung, dekorativen Klangmüll, fehlende Konzepte und mangelnden Zuspruch eines unabhänigen Publikum zu beschweren, ist eine Seite der Medaille, die andere, Lösungen anzubieten bzw. für Lösungen den Boden zu breiten. Das kritische Köpfe und wache Geister initiativ werden, setzt übrigens auch ein wenig Geduld voraus.

Niemandem hilft es heute noch weiter, wenn Analysen im “wir müßten:…”, “es ist an der Zeit, dass…” verbal kulminieren und gelegentlich höchstens eine feuilletonistische Plänkelei auslösen. Es ist und bleibt ein sich immer stärker drehender Strudel der Tatenlosigkeit und Frustration, das Problem permanent zu delegieren: die Künstlern an die böse kulturlose Umwelt, die Hochschulen an den Markt, die Komponisten an die Verlage, die Festivals an die Kulturpolitiker etc, etc.

Patentrezepte gibt es gewiss nicht; mit Sicherheit aber löst sich das Problem nur, wenn dem System und seinen Komponenten eine Radikalkur verordnet wird. Das große “Köpferollen” steht allerdings nicht bevor, genauso wenig wie eine “Stunde Null” - möglicherweise aber klare Worte, schmerzhafte Entscheidungen und Prozesse. Unkontrollierbare Radikalität, Wut, Exaltiertheit und Schonungslosigkeit, die in vielerlei Hinsicht auch heute noch wohltuend ist, droht mit Sicherheit nur dann, wenn Konzepte und Ideen weiterhin allein im systemkonformen oder systemnahen Gewand eine Chance haben.

In mancherlei Hinsicht ist Diskussion wichtig, in anderer Hinsicht mehr als überflüssig. Nicht übersehen werden sollte in diesen Zusammenhängen ferner die Tatsache, dass, wo Künstler das Wort ergreifen, ihnen die Öffentlichkeit auch heute noch manche Unverblümtheit zubilligt, ja, geradezu erhofft. Wo Werke eine Sprache haben, die sich nicht nur rein intellektuell erschließt und vermittelt, sondern Fragen an sich und seine Rezipienten stellt und das Wagnis von Lösungen und Konzeptionen eingeht, da werden diese Werke auch ihre Öffentlichkeit bekommen. Denjenigen, die sich in der Mitte befinden (und diese Mitte ist zumeist gleichzusetzen mit den oben beschriebenen Systemen und ihren Strukturen), nimmt die Öffentlichkeit das “kritisch am Rand stehen” schwerlich ab, zumal, wenn es nur als Klagelied oder ästhetizistische Diskussion und nicht als Spannung zwischen verschiedenen Komponenten öffentlich wird. Denjenigen aber, die gesellschaftliche, ästhetische, soziologische und politische Polaritäten künstlerisch umsetzen, die gerade am Beginn des 21. Jahrhunderts mit seinen so vielschichtigen Wandlungen als zentrale Fragen ganz neu von Belang sind, finden auch Rezeptoren ihrer Ideen. Die Frage, ob das dann “neu” oder “anders” ist, stellt sich im Nachhinein. Vorher sollten manche zarte Ansätze nicht in den Schubladen alter Begrifflichkeiten und auf den Märkten fragwürdiger Rezeption zu Grabe getragen oder in Strukturen begradigt werden. Strukturen, denen das kurzfristige Überleben wichtiger ist, als längerfristige Perspektiven, die etwas mit der heutigen Zeit und ihren Herausforderungen zu tun haben wollen.

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Publikation: In: Programmheft zur Uraufführung »Für S.«

1999: himmelschreiendes Verstummen in bombigen Zeiten
“glaubten wir denn gar nichts mehr, seitdem - …”

Gerade unter den Kulturschaffenden kennt die Heuchelei des empörten Erschreckens kaum noch Grenzen, jetzt, wo Raketen, Kampfflugzeuge und menschliches Elend virtuell aufbereitet unsere Vorstellung bombardieren. Wohldistanzierte Entsetzlichkeit.

Angesichts einer kaum noch determinierbaren Vielfalt der Erscheinungen, scheint das permanente Insistieren auf Moralischem, auf Altruistischem bzw. - um Überwertungen von kulturellem Interventionismus nicht das Wort zu reden - das Verweisen, das Hinweisen auf genannt Moralisches nahezu lächerlich. Doch ist das Achselzucken der Resignierten oder die überraschte Betroffenheit der Distanzierten eine Antwort auf die - natürlich zu allem Zeiten - drängenden Fragen? Wohl kaum. Zumindest aber scheint sich hier das absehbare Drama von gesellschaftlicher Selbstfindung in postmodern-relativistisch fehlinterpretierten Zeiten zu manifestieren. Allzu leichtfertig wurde den wichtigen ästhetischen Debatten - die Nachdenkenswerterweise immer mehr im “alles ist wunderbar relativ” münden, und die so großartig das Unbeteiligtsein legitimieren - das moralische, ethische und soziologische Handeln und Entscheiden von Personen und Personenkreisen geopfert. Jetzt also, wo die Realität auf jenen Interventionismus hin wieder überprüft wird, muss die plötzliche Engagiertheit, bzw. eben jenes himmelschreiende Verstummen umso mehr verwundern. Ist dies Dummheit, Blindheit oder modisches Kalkül, so muss hier naiv gefragt werden ?

Natürlich findet sich in der großen Vielfalt immer ein Pendant zum “so oder so”, eher jedenfalls als zum “so”; aber dem Definierten einer Entscheidung die sich moralisch überprüft (und anders als definiert tritt keine Erscheinung zu Tage, wie relativ sie dann auch immer wirkt oder interpretiert wird), dem Definierten einer künstlerischen Entscheidung ist auch die Möglichkeit des Einmischens, des (Ein-) Wirkens immanent. Und außerdem und bekanntermaßen überschreitet Kunst ganz leicht die Grenzen die politisches Kalkül zieht.

Dem Geruch des futuristischen oder nostalgischen Weltverbesserns, der dem Moralbegriff leider anhaftet - heute -, sollte gelegentlich wieder die sachliche(?) Penetranz des Einforderns entgegengesetzt werden.

Natürlich - der Hoffende ist schließlich nicht der Blinde -, es ist reichlich unpopulär auf dem Schlachtfeld der reinen Begrifflichkeit und Individualästhetik derartiges einzufordern - nicht nur heute. Die Interessierten aber, die Sensibilisierten, die Begabten, die Verantwortlichen sollten ruhig auch dann mit Permanenz den Finger erheben, wenn die Realität keine unmittelbare Notwendigkeit des Eingreifens erkennen lässt. Doch was heißt hier unmittelbar? Wäre dies nicht wieder eine relativistische Ausrede?

Nun ja, “Krieg, et cetera” ist Alltag der Anderen - klar, und Mord (auch amtlicher übrigens), Folter, Vergewaltigung, Vertreibung sind glücklicherweise eben meist nicht unsere Alltäglichkeiten. Lächerlich also eigentlich die Aufregung: “Wir sind die Guten”. Immer. Oder?

Wer aber redet in einer Gesellschaft der demokratisch vereinigt-unterdrückten Ängste schon gerne von trügerischer Ruhe und leblosem Toleranzgemurmel, von Eingreifen und Beteiligtsein?!

“vielleicht noch” Du?

(Die in Anführungszeichen kursiv gesetzten Textstellen beziehen sich auf das in diesem Werk vertonte “Dezember-Gedicht” von Jürgen Becker.)

Thomas Chr. Heyde

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Publikation: privat

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        (John Cage)

Betrachtung darf nicht Archivierung werden, soll nicht die Impulsivität und das Narrative des Künstlerischen verloren gehen. Was sich der Betrachtung als Schwierigkeit einer Zeit ergibt, hängt aber sehr stark von der FrageStellung an diese Zeit, von der Interpretation ihrer Erscheinungen ab. Betrachtung, die Rückschau im Sinne einer vollkommenen historischen Identifikation ist, gibt es aber nicht. Standpunkte werden sichtbar, die eine Frage der Stellung zum Gegenstand sind, zur Sache oder, um es mit Goethe zu sagen: “Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.”
Das, was sich hier wie der Beginn eines Pamphlets für postmodernes Denkens ausnimmt, ist aber als Fragestellung gedacht:

Unabhängig davon, ob man nun annimmt, dass die Postmoderne sich als Dekade, intellektuelle Strömung, globale Realität oder als das Ende jedweder Geschichte definiert; oder ob man annimmt, dass Postmodernität “die Welt als kontingent, als unbegründet, als vielgestaltig, unstabil, unbestimmt, als ein Nebeneinander getrennter Kulturen oder Interpretationen” begreift; oder ob man annimmt, dass das Medial-Universale die Realität oder Fiktionalität der Postmoderne widerspiegelt; oder ob man meint, dass die Postmoderne lediglich eine Gegenmoderne ist: Wie alles andere, wird auch Kunst erst in der Vermittlung real, d.h. bekommt ihr wirkliches Sein und Da-Sein. Oder, ausgedrückt mit den Worten Hans-Georg Gadamers: “Ein Sinnganzes […] ist nicht an sich, […] sondern es gewinnt (erst) in der Vermittlung sein eigentliches Sein.”

(Diese Einsicht und das mit dem Sachverhalt verbundene generelle Fragen ist als Interpretationstheorie natürlich schon wesentlich länger im Umlauf. Im Zusammenhang mit der “dialogischen Methode” und schon praktische Konsequenzen ziehend, stellt Sokrates in Platons Protagoras fest: “Denn ich will eigentlich nur den Satz prüfen, aber es ereignet sich dann wohl, dass dabei auch ich, der Fragende, und der Antwortende geprüft werden.” Die nötige Abgrenzung freilich, d.h. also: “Ausgeschieden wird alles, was nicht zur Sache gehört”, ist heute umstritten, doch bei jeder sachlichen Betrachtung, bei jeder vorurteilsfreien Wahrnehmung wenigstens der Absicht nach zu verfolgen. Allein das Wissen um diese Tatsache - der Autor kommt darauf noch zurück - vermeidet hier schon weitgehend das Ideologische, Fatalistische und Fundamentalistische.)

Doch gibt es im Gegensatz zu manchen anderen Bereichen, hier in der Kunst, ein inneres Fragestellen, ein Anliegen, das eben nicht der Allgemeinheit der Dinge eigen ist. Ob Kunst nun verneint, bejaht, sich gleichgültig oder avantgardistisch verhält: sie ist mit diesem Anliegen bestückt, unabhängig davon, ob es intuitiv oder willentlich impliziert ist (so es denn wirklich Kunst ist, bzw. sich diese nicht historizistisch verhält, d.h. also neben die eine, aktuell-wirkende und historisch-gewachsene Realität noch die scheinbar wiedererwachte Geschichte setzt). Dieses Anliegen ist allerdings immer - bewusst oder unbewusst - ein moralisches oder unmoralisches, ein ethisches oder unethisches, ein soziales oder unsoziales, ein objektives oder ein phantastisches, futuristisches oder visionäres, ein vernünftiges oder unvernünftiges, ein identitätsstiftendes oder identitätsloses, ein wahrhaftiges oder unwahres… All diesen Begriffen, all diesen Anliegen aber ist das schwer Abgrenzbare fast ebenso immanent, wie die Möglichkeit zum Ideologischen.

Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb kommt man um das Stellungnehmen hier nicht herum (und zwar im konkreten, praktischen Sinne, auch wenn der postmoderne Diskurs gerade um diese Begriffe bzw. Realitäten und Realitätsmöglichkeiten oft einen weiten Bogen macht). Gerade die Kunst bzw. künstlerisches Wirken impliziert die genannte Begrifflichkeit, also dieses schlechthin am wenigsten zu Definierende (zwar tanzen auch die Künstler um das goldene Kalb der rein ästhetizistisch-interpretierten Postmoderne herum, doch mit jedem Wort, mit jeder Aktion, mit jedem Werk legen sie etwas Sein dar, widersprechen somit dem Schein; dies auch, wenn ihr Werk selber Schein ist). Die universelle Ästhetisierung hingegen, die im Grunde alles gleichwertig macht, macht auch jedes Ding in diesem Sinne zur universellen und universell übertragbaren Ware, einschließlich ihres historischen Kontextes. Die Frage also, was Hitler von Beethoven unterscheidet, ist nicht nur eine relative und insofern auch relativ interpretierbare, sie ist auch nicht nur Totschlag-Rhetorik; sie ist eine konkrete Frage, eine des moralisch-ethischen Standpunkts.

Anders gefragt: wenn man die obige Behauptung, dass im Grunde genommen alles Interpretation ist, als wahr annimmt, dann muss man folgerichtig fragen, ob nicht eben genau diese Behauptung gleichfalls dem Interpretationszwang unterliegt und insofern auch relativ ist. Das was folgt, ist dann so unbegründet, dass es zwar für die Kunst und auch für die Wissenschaft schon wieder interessant ist, aber deshalb noch nichts mit der gelebten Realität gemein hat, in die sich auch Kunst einmischt, bzw. zu der sie sich verhält.

Schamlos könnte man sich die Hände reiben, bzw. sie als Intellektueller in den Schoß legen, wenn man dem folgenden, diesbezüglich-resignierenden Schluss des durch die “künstlichen Schöpfungen” beunruhigten Peter Sloterdijk zustimmen würde, der meint, es “können im Kern der weitergedachten Moderne nur noch Unternehmer, Erfinder und Künstler, nicht aber mehr Denker im Sinne der philosophischen Tradition auftauchen; das Denken selbst als Entsprechung zum Sein ist offenkundig dabei, eine marginale Funktion zu werden; die Hirten des Seins rücken an den Rand, ja das Sein selbst, als Reich der gewesenen Freiheit, nimmt sich nun aus wie eine schmale Provinz”.

Nicht nur, dass es hier konsequenterweise die Lehrstühle für Geisteswissenschaften schleunigst aufzulösen gelte, einschließlich dem des Prof. Peter Sloterdijk, nein, allen Ernstes meint Sloterdijk, dass Denken “eine marginale Funktion” ist, der es anscheinend unter anderem im Künstlerischen nicht bedarf; und Unternehmer, Erfinder und Künstler (man beachte die Reihenfolge) in den Sloterdijkschen Topf des postmodern-frustrierten Seins zu werfen, kommt einer totalen Nivellierung jedweder produktiver Gegensätze gleich.

Pluralistische Vielheit wird hier mit Beliebigkeit gleichgesetzt. Zwar, so Sloterdijk weiter, “gibt es keinen Grund, nicht zu glauben, dass das Beste soeben entsteht”, aber “wer auf Sein baut, erlebt Verschleiß”. Nun, so möchte man denen antworten, die solches missbilligen, vielleicht ist es gerade dieser Verschleiß, der das Sein wahrnehmbar macht und der es auch gleichzeitig am liebsten vergessen machen möchte. Vielleicht ist es auch eine Herausforderung für das “Bewusstsein eines Geistes, der […] am noch Unbekannten arbeitet und im Wirklichen das sucht, was seinen vorausgegangenen Erkenntnissen widerspricht”.

Da soll schon mit einem anderen postmodernen Philosophen, nämlich Wolfgang Welsch geantwortet werden, der in diesen Zusammenhängen wenigstens noch die Frage stellt: “Wie kann eine Vernunft, die nicht mehr […] Ursprungsvernunft ist […], wie kann eine solche Vernunft, gleichwohl genügend Eigenheit und Selbständigkeit besitzen, um von Rationalität unverwechselbar unterschieden zu sein und in deren Sphäre kritisch intervenieren zu können?” “Nicht die Vernunft, (als das) Vermögen mit der Pluralität rationaler Formen richtig und förderlich umzugehen, sondern die Rationalität ist plural geworden.”

Man mag also die Pluralität auch der Seinsformen schätzen oder nicht, begreifen und demnach auf Wesentliches hin kritisch abklopfen wollen oder nicht, intervenieren wollen oder nicht: Fakt ist, dass Pluralität zu konstatieren ist. Und zwar nicht nur in noch nie dagewesener Form, sondern vor allem ist im Informationszeitalter (das manchen Denker nicht nur er sondern verschreckt) “Auswahl die Kunst der Stunde”. Und das heißt auch, dass nicht nur in dem Moment, wo wir meinen etwas verstanden zu haben, bei gesundem Menschenverstand der Selbstzweifel einsetzen muss; sondern er muss auch einsetzen, wenn man meint, es gäbe nichts mehr zu verstehen, bzw. - da eben alles Interpretation ist - wenn die Annahme besteht, dass alles in sich selbst relativ und daher zueinander sowieso fragwürdig ist.

“Die Gangart der Dinge”, so Wolfgang Rihm 1995, “entscheidet, ob es sich um Moderne oder beispielsweise um eine Alt-Moderne handelt”, d.h.: wie die Dinge wirken, in welchem Kontext sie wirken, ist also nicht nur eine Frage der inneren Substanz, sondern auch eine Frage ihrer Erscheinung und ihres Wirkens. Dass die Frage des inneren Werts überhaupt hier diskutiert werden muss, ist schlimm. Die Postmoderne birgt zwar mehr als andere gesellschaftliche Strukturen die Chance zur Toleranz in sich, aber die Chance bleibt nur eine, wenn sie auch Hoffnung zulässt und Toleranz nicht Beliebigkeit im moralisch luftleeren Raum ist. “Denn was wir wünschen können, muss doch im Bereich unsrer Kräfte liegen.”

Die Postmoderne bietet, da sie angeblich alles involviert, scheinbar wenig Angriffsfläche. Aber nicht nur, daß dies auch andere kulturelle Systeme, Stile und Identitäten schon von sich behaupteten und jede diesbezügliche Kritik empört von sich wiesen, nein, die eigentliche, die lebendige Frage ist: wie wird hier was und mit welcher Gewichtung, mit welchem Ernst von wem eingeschlossen. Der langen Vorrede kurzer Sinn bezüglich “Nono in der Postmoderne !?” ist: Wenn es manchmal schon schwierig ist, Nono in der Begrifflichkeit der Moderne unterzubringen, so ist es noch viel schwieriger ihn der Postmoderne zuzuordnen.

(Nachdrücklich sei auf die Unterscheidung zwischen Gesellschaftsordnungen, politischen Systemen sowie kulturellen Systemen, Stilen und Identitäten hingewiesen. Denn nichts anderes als ein kulturelles System etc. ist die Postmoderne, auch wenn es hier natürlich sehr vielfältige Überschneidungen innerhalb und zwischen den einzelnen Gesellschaftsordnungen und politischen Systemen gibt. Dieser Hinweis ist in sofern wichtig, als es gelegentlich den Anschein hat, dass der ästhetische “Wandel” des späten Nono gleichgesetzt wird mit einem möglichen oder tatsächlichen politischen Wandel. Dass es diesbetreffend auch bei Nono diverse Überschneidungen gab, soll in keiner Weise bestritten werden; aber zu beachten ist auch, dass der Komponist z.B. bis zu seinem Tode Mitglied der kommunistischen Partei war.)

Um sich aber nicht auf die Sicherheit eines nur scheinbar definierten terminologischen Standards einzulassen, dienten die einleitenden Worte der Begriffsfindung bzw. der Abgrenzung und aktuellen Sichtung der Begriffe. Unter der Fragestellung, was diese Begrifflichkeit bezogen auf Nono wert ist, hier einige Ansätze, die gleichwohl nicht den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit haben können.

Grundsätzlich muss natürlich auch hier klar sein, dass Kategorisierungen jeder Art von der Substanz künstlerischen Schaffens oft mehr abziehen, als sie der Sache hinzusetzen können; und klar muss auch sein, dass nur bedingt Gültiges aus der Substanz des Begriffs “Postmoderne” zu ziehen ist, da die Definition und Abgrenzung noch nicht aus dem Blickwinkel historischer Distanz geschehen kann.

Doch verallgemeinernde Begriffe machen sehr wohl auch Sinn und zwar, wenn sie lebendig sind bzw. lebendig gehalten werden, dem kritischen Diskurs unterliegen und keine Dogmen oder ideologische Sätze darstellen. Zwar ist helle Aufregung angesichts der noch laufenden Begriffsfindung nun wirklich nicht angebracht, doch Interventionismus sollte in dieser Angelegenheit doch ein wenig alltäglicher werden. Fraglich ist also z.B. die folgende, vermutlich ironisch gemeinte, nichtsdestotrotz möglicherweise auch leicht resignative Haltung Jürg Stenzls, welcher meint, dass gerade “hier […] in Deutschland […], wo man nur mit Habermas in der Tasche rumläuft […] und man unter Postmoderne ja bloß eine Gegenmoderne, eine kulturindustriell angepasste Befreiung von und Überwindung der fundamentalistischen Moderne versteht”, die Paradigmatisierung Nonos im Sinne der “musikalischen Postmoderne[…], nur unfruchtbare Polemiken entfachen” würde.

Doch ist dies natürlich keine Lösung und vor allem nicht für eine jüngere Generation, die sich ja möglicherweise fragt “wie Luigi Nonos Ansätze in die Zukunft fortgeschrieben werden können” (eine Frage, die übrigens auch Stenzl an anderer Stelle stellt). Eine weitere Fragestellung, die sich in diesem Zusammenhang ergibt, ist die: wie sich Nono heute überhaupt noch sehen lässt, d.h. ob sich bestimmte Ansatzpunkte überhaupt ohne Epigonentum weiterverfolgen lassen.

Nono, der ein exzellentes Beispiel eines engagierten Künstlers darstellt, hat - bewusst oder unbewusst - aus seinen Irrungen und innerlichen Wirrungen keinen Hehl gemacht. Dies rührt sicherlich auch daher, dass er sich permanent gegen die Sicherheiten, die Anbiederungen seiner Umwelt verwahrte, sich aber dennoch einließ auf eine Sache: mit Weisheit und Blindheit, mit Wut und mit Liebe, mit tiefster persönlicher Wärme und grausamster menschlicher Kälte. Eckhard Rödger, der die immer unter großen Schwierigkeiten nur durchzusetzenden Aufführungen Luigi Nonos im Osten Deutschlands produzierte und technisch realisierte und der in den 80er Jahren z.B. auch den Prometeo in Sizilien realisierte, sagte diesbezüglich in einem Gespräch mit dem Autor: “Es war bei Nono so, als säße man auf einem Vulkan, der jeden Moment ausbrechen konnte. Sei es nun in Form von wärmster Zuneigung oder als tiefste Missbilligung. Wobei man sagen muss, dass letzteres nie lange anhielt: bei der nächsten Gelegenheit war alles wieder vergessen.” Unsicherheit - zugegebene Unsicherheit, muss man genauer sagen - ist jedenfalls ein markantes Merkmal des Spätwerks, und davon sprechen nicht nur seine ständig im Fluss des “work in progress” befindlichen Werke, sondern auch seine manchmal fast fragmentarischen Äußerungen, sein Auftreten, seine Haltung.

Man kann dieses deuten als den Habitus des Enttäuschten, als die Erkenntnis des Geläuterten, als Erweiterung und Umwandlung von Aspekten geistiger und kompositorisch-technischer Natur im postmodernen Sinne oder im Sinne einer erweiterten Moderne; sicher ist, dass sich Nono buchstäblich bis zum letzten Atemzug wachen Blicks in den Strudel der gesellschaftlichen und moralischen Betrachtung und des Stellungnehmens einließ, auch wenn er in den 80er Jahren zunehmend selber in diesen Sog geriet - mit der Ausnahme, dass er nun nicht mehr als Beteiligter, sondern als zu Betrachtender angesehen wurde. Weiter als manch einer seiner Generation war er in jedem Fall, denn da er schon früh gelernt hatte, sich mit dem Fluß der Geschichte zu befassen - den mancher Künstler natürlicherweise gern nach seinen eigenen Intentionen gelenkt wissen möchte -, stellte er sich diesem auch nicht in den Weg.

Andere Zeiten haben auch andere Konsequenzen, ohne dass dies dem Idealismus abträglich sein muss, und die Anerkennung der Gegensätze muss nicht zwangsläufig auf ihre Versöhnung in lieblicher Harmonie hinauslaufen - kaum einer legte dies klarer dar als Nono. Stilisierung war hier aber in allen Fällen zwangsläufig zu erwarten. Mancher Vertreter aus Nonos Generation, der sich selbst nicht objektiv mit den neuen Zeiten befassen will, möchte natürlich den großen Erneuerer nicht gern in der Postmoderne angesiedelt sehen, bzw. da die Postmoderne eben nicht mehr wegzuargumentieren ist, wird sie eben als “radikalisierte Moderne” interpretiert.

(Es ist an dieser Stelle deutlich zu unterscheiden zwischen “individueller oder ganzheitlicher Kritik an der Gesellschaft” und zwischen dem Standpunkt zum Begriff, bzw. zu der Analyse des Begriffs “Postmoderne”. Ersteres soll nicht nur mehrfach unterstrichen sein, sondern es kann gar nicht nachdrücklich genug Kritik und Vision eingefordert werden, ob sich nun solches als Forderung nach gesellschaftlicher Veränderung, Vision neuer Gesellschaftsformen oder als rein kritische Zustandsbeschreibung manifestiert.

Unterstrichen werden muss aber auch der zweite Punkt. Denn einen Zustand, eine Sache, eine Gesellschaftsform, eine kulturelle Epoche oder ein bestimmter kultureller Abschnitt lässt sich nur bestreiten oder verändern, wenn man ihn objektiv-kritisch analysiert, sich also im Sinne einer Interpretation beteiligt, die zuerst einmal den Sachverhalt wie er ist, bzw. wie er sein könnte, anerkennt und sich nicht einen Zustand nur herbeiwünscht. Letzteres, für die Kunst durchaus legitime Vorgehen, ist nämlich erst in Folge der Interpretation möglich. Das “Bilde Künstler, rede nicht” Goethes macht zwar auch den Autor frieren, doch leuchtet es ein, wenn man als Beteiligter meint, man stünde als Prophet vor großen Menschenmengen, unterhält sich aber in Wirklichkeit mit den Sandkörnern in der Wüste und dies noch nicht einmal als “einsamer Rufer”.)

Nono stand nie außerhalb der Gesellschaft, er stand immer kritisch an deren Rand.

Postmoderne Ansätze und Tendenzen lassen sich sehr wohl feststellen, wer dies nicht sieht, ist blind oder will das kulturelle Umfeld nicht sehen und sich somit auch nicht objektiv mit ihm auseinandersetzen. Man kann also in solch einem Fall nur raten - Brecht abgewandelt: die Komponisten mögen sich doch eine andere Gesellschaft wählen. Nonos Postmodernismus ist allerdings einer, bei dem zu fragen ist, ob es sich hierbei nicht um einen mit Visionen und “Realien” genährten Humanismus handelt, der mit den neuen Erkenntnissen verbunden wurde. Ebenfalls unsinnig wäre es, in der Gesamtheit - und diese gilt es nicht aus dem Blick zu verlieren - Nono als personifiziertes Fragezeichen im postmodernen Sinn zu betrachten und hier ausschließlich sein Spätwerk heranzuziehen bzw. im umgekehrten Fall, den pensionierten Kommunisten festzustellen, der sich persönlich noch ein paar, nicht ganz ernst zu nehmende Experimente leistet.

Eine Künstlerpersönlichkeit, zumal noch eine wie Nono, ist ein Komplex, dem nicht mit einer einzigen Kategorie beizukommen ist - und das macht ihn ja auch groß, und sicher sind sein Werk und sein Naturell gerade deshalb so interessant. Eine Schublade gibt es hier nicht, die die Person bestimmenden und unvollständiggenannten und bekannten Aspekte sind wohl eher als ein Konglomerat zu bezeichnen.

Sehr fraglich ist, ob Nono mit Klaus Hubers nachrufender Vereinnahmung “… Die umgepflügte Zeit …” so einverstanden gewesen wäre, die sich eher wie eine Positionierung in eigener Sache und Abgrenzung gegen Wolfgang Welschs “Postmoderne” sowie gegen die oben zitierte Stellung des verdienstvollsten Nono-Forschers, Jürg Stenzl, liest. (Hinzugefügt sei, dass Welschs Entwürfe zur postmodernen Musik manchen Problempunkt haben und insgesamt sehr kritisch zu sehen sind. Die Grundzüge seiner Ästhetik aber sind in ihrer Gesamtheit - es gibt schließlich noch mehr Publikationen Wolfgang Welschs, als die von Huber zitierte - durchaus nachdenkenswert, obwohl sie ebenso in ihrer ästhetizistischen Tendenz kritisch hinterfragt werden sollten, was ja am Beginn dieses Kapitels geschah, wenn auch dort nicht direkt bezogen auf diesen Autor.)

Wenn Huber vorgibt, fruchtbare Methoden des generativen Fortschreitens in der Kunst zu kennen, dann mag man ihm als Komponisten das ja abnehmen oder nicht. Überträgt er diese Progressions/Regressions-Methodik jedoch - Dorothee Sölle mit den Worten zitierend “Die Frage ist nur, welchen Wert wir der Regression beimessen und wie wir sie beurteilen. […] Man kann aber die Beobachtung machen, daß kreative Leistungen aus tiefen Regressionen kommen” - auf den späten Nono, dann wird Kulturpessimismus rhetorisch umgedeutet zu (sicherlich avantgardistisch gemeintem) Optimismus.

Hubers Hauptanliegen, “Nono gegen die Usurpation seines Spätschaffens als Paradigma des postmodernen Musik- und Kunstdenkens zu verteidigen” geht insofern völlig ins Leere, als der ansonsten unübertroffen lebendige Komponist Huber eine Analyse der Postmoderne liefert, die mit einer objektiven Interpretation im obigen Sinne nichts zu tun hat. Spricht man der Postmoderne die Tiefe der kritisch-individuellen Inhaltlichkeit sowie die Pluralität der Bedeutungen und Inhalte ab, sieht also nur noch Oberflächen ohne eigentliches Relief, so kommt man natürlich zu Schlüssen, wie sie Huber hinsichtlich Nono zieht.

Gewiss: Dummheit war schon immer zuviel in der Welt, doch wäre es nicht angebrachter, diese von einem zeitrelevanten Standpunkt aus zu kritisieren und nicht vorschnell zu resümieren, “Das alles hat nichts mit Gigi Nono zu schaffen”, obwohl man eigentlich trotzig-infantil fragt: Kann denn dies alles etwas mit meinem Gigi zu tun haben? Und dann, um mögliche Widersprüche in den Thesen auszuräumen, zu behaupten, “es könnte doch sein, dass der manchmal stürmische Wind der Zustimmung, ihn aber möglicherweise dann und wann […] auch zu irritieren imstande war”, ist unsachlich und ignorant; denn nichts ist für einen Künstler (auch für Huber) schlimmer, als wenn er mit seiner Meinung belächelt oder nicht ernst genommen wird.

Das “Zusammenbiegen der Gegenpole”, aus denen der lebendige Sinn Funken zu schlagen vermag, im Sinne eines Entstehens “induktiver Ströme” (Warum hier eigentlich die Verwendung eines physikalischen Begriffs?), ist in Nonos Spätwerk jedenfalls selten festzustellen. Nono geht es weniger um das Interpretieren der Gegensätze oder gar um eine Gegenüberstellung in der Art des Kontrastprinzips, denn um das Beschreiben ihres Da-Seins.

Es ist, und dies ist wirklich sehr bemerkenswert an Nono, der Wille zur positiven Sichtung, der Wille zur Wahrhaftigkeit, zur Einsicht einer Möglichkeit von Wahrheit. Und dieses klingt dann manchmal sehr unangenehm, manchmal fragmentarisiert, manchmal kaum hörbar und manchmal unüberhörbar, manchmal sphärisch, manchmal dunkel und karg, manchmal licht und hell… Aber niemals gleich gemacht, glatt gebügelt für die Sache. (Und dies auch oft - hört man genau hin, betrachtet man genau - schon in den Werken, die eindeutig noch einer Sache unterstehen, den Werken also der 50er, 60er und 70er Jahre.

Denn auch diese Werke sind ideell, aber nicht nur idealistisch, sind kritisch gegenüber dem Ideal, aber gleichzeitig darauf beharrend.) Nun relativiert sich das Ideal zwar später - zumindest das politische -, das heißt aber nicht, dass Nono keine Einstellung mehr gehabt hätte. Es ist die Einstellung desjenigen, der umschließen will ohne einzuhüllen, desjenigen, der suchen will mit unbedingter Interessiertheit an seiner Umwelt. Es ist die Einstellung nicht der geläuterten Gelassenheit, sondern eine Einstellung, die der gelebten Läuterung bedarf, ja, zu der man ohne Läuterung nicht kommt. “Denn der Irrtum ist es”, so Nono 1983, “der die Regeln zerbricht”.

Unbestritten sei, dass eine derartige Positionierung, ein derartiges “freiwillig in der Luft hängen” aber nicht im luftleeren Raum sein, auch sehr schnell umschlagen kann in Mystizismus, Depression etc.. Und auf manchem der Nonoschen Spätwerke liegt ein solcher Schleier, allerdings ohne dass es je in diese Bereiche umkippen würde - dies sollte auch gesehen werden. Das Bild des Wanderers (Caminantes), nicht nur für Nono, sondern für viele andere Geistesgrößen ein passendes Bild für das unstete Suchen in der Welt, wird von Friedrich Nietzsche in “Menschliches, Allzumenschliches” so zündend beschrieben, dass man im Zusammenhang mit Nono fast geneigt ist, die Sache ohne Einschränkung zu übertragen.

“Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer, - wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was in der Welt eigentlich alles vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht allzu fest an das einzelne anhängen; es muss in ihm selbst etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe.”

Nonos Denken, gerade in den späten Werken, rüttelt nicht wenig am Bild des Künstlers. Die Erwartung, Nono wäre noch ein Kind von Multimedia und Cyberspace geworden, braucht natürlich nicht diskutiert zu werden. Sein unbedingtes Festhalten an zeitgemäßen Mitteln aber, in seiner ganz eigenen, bewusstseinsstiftenden Weise, muss doch Anlass zum Nachdenken und Überdenken sein. Natürlich ist die Musik der letzten Jahre auch Musica reservata, und man konnte vom späten Nono nicht mehr erwarten, dass er in tiefsten Krisen, kurz vor dem Verstummen noch frische Rezepte für die eilige Jugend hatte.

Dennoch, sein offen sein für Vieles, sein Einschließen ohne vereinnahmen zu wollen, seine bewundernswert menschliches sicher ist nur die Unsicherheit - das aber eben nicht als Relativitäts- oder Toleranzdogmatismus zu Tage tritt, sich nicht in entlegenste Positionen und Frustrationen flüchtet - sollte nicht nur Bewunderung hervorrufen; es muss, gerade heute, wo ideologische Positionslosigkeit und gesellschaftspolitische hohle Verallgemeinerung gern zum erstrebenswerten Idealzustand (v)erklärt wird, auch nachdenkenswertes Vorbild sein.

An anderer Stelle wurde schon darauf verwiesen: Auf Grund mangelnden historischen Abstands, aktueller persönlicher Befindlichkeiten und einer alles andere als diesbezüglich reichhaltigen Materiallage ist es leider nicht möglich, die Person und Persönlichkeit auch von anderen Seiten zu beleuchten. Ganz bestimmt hängt das Schwanken zwischen reiner Werkbetrachtung und schüchterner Kritik auch mit Respekt und Übervorsichtigkeit zusammen.

Ohne dass dem biographischen Exhibitionismus das Wort geredet werden sollte: Irgendwann wird der Punkt der reinen Werkbetrachtung überschritten sein, und der Künstler muss sich dann mit der Latte messen lassen, die er selbst an andere angelegt hat. Es wäre eine allzu romantische Weltsicht, auf der man beharren würde, wenn man sagt, dass Kunst und Lebenswirklichkeit zu trennen sind, zumal Nonos Lebenswirklichkeit fast ausschließlich durch die Kunst definiert war und sich hier auch das “Privateste” äußert.

Nono bezog zuletzt nahezu alles in sein Betrachten ein, einen anderen Weg sah er nicht. Warum soll also der wissenschaftliche Betrachter nicht wenigstens - alles kann er ja nicht einbeziehen - ein bisschen mehr berücksichtigen als nur das reine Werk und Nonos diesbezügliche Äußerungen. Denn abstrakt und/oder epigonal ist Wissenschaft dann, wenn sie bewusst ausklammert, oder sich - wie Stefan Fricke nicht ganz zu Unrecht in seiner Rezension der Nono-Monographie von Jürg Stenzl bemängelt - an unreflektierten Klischees wie “war ein liebender Vater” oder “pflegte zu nehmen, was sich ihm zuneigte, und er eroberte, was ihn erregte” festhält.

Damit Wissenschaft lebendig wird, müssen auch andere Aspekte berücksichtigt werden. Denn es ist - ohne dass man ein ausgesprochener Nono-Kenner sein muss - bekannt, dass die Person Nono auch Wesens- und Charakterzüge aufwies, die sicherlich eine tiefere Deutung erfahren sollten. Dass sich der Komponist 1980 nach Angabe von Walter Levin in einem “grauenhaften Zustand” befand, lässt auch andere Interpretationen als die der allgemeinen und nicht näher zu durchleuchtenden crisis zu. Bevor die Gefahr von Mythenbildung gegeben ist - die Materiallage verbessert sich ja nicht unbedingt mit den Jahren, sollten lieber jetzt mit Seriosität und Würde auch andere Seiten der Person Nono dargelegt werden.

Bei aller Strategie der Interpretation, bei aller Wissenschaftlichkeit, bei allem Kalkül, das kritischen Diskursen im Sinne dieser Arbeit widersprechen mag: nicht nur die Beschäftigung mit Musik im allgemeinen, sondern besonders die Beschäftigung mit ihren hervorragendsten Vertretern bleibt, ja muss in jedem Fall zuerst eine Herzensangelegenheit sein. Denn, so der Komponist:

“Je mehr man hier ist [zeigt sich aufs Herz],
umso mehr ist man so [gestisch die Verbundenheit und
Offenheit zur Welt andeutend].”

(Thomas Christoph Heyde, 1998/99)

Der Text ist Teil der Arbeit “`No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkowskij´ - analytische Betrachtungen zu Luigi Nonos letztem Orchesterwerk”. Veröffentlicht ist hier nur das letzte Kapitel.

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Thomas Chr. Heyde (*1973)

Der Leipziger Komponist Thomas Chr. Heyde studierte an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater Komposition bei Peter Herrmann und Elektroakustische Musik (Eckhard Rödger), des Weiteren im Rahmen eines Stipendiums der Akademie der Künste, Berlin bei Friedrich Schenker sowie und innerhalb eines Auslandstipendiums an der Musikakademie Basel bei Thomas Kesseler. Er war u.a. Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, der Alfried Krupp von Bohlen und Hallbach-Stiftung sowie der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen.

Zwischen 1998-2006 unterrichtete Heyde im Bereich Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (Academy of Visual Arts), Leipzig und leitet das dortige Tonstudio. Außerdem ist Heyde, der seit 2003 als freischaffender Komponist in Leipzig lebt, auch als Produzent sowie Autor tätig. Als geschäftsführender künstlerischer Leiter des Forums Zeitgenössischer Musik Leipzig [FZML] sowie als freier Dramaturg initiierte und leitete er verschiedene Festivals und Konzertreihen. In den von ihm kuratierten Projekten, die häufig andere Kunstrichtungen aber auch U-Musik mit zeitgenössischen Musikformen in Zusammenhang stellen, spielen sowohl die Vermittlung als auch inhaltliche Aspekte eine wichtige Rolle.

Heydes Oeuvre umfasst sowohl Orchesterkompositionen und Kammermusik, insbesondere aber auch elektroakustische, liveelektronische und intermediale Werke, die er zumeist in Eigenregie produziert und einstudiert. Seine Kompositionen wurden vom Deutschlandradio, Deutschlandfunk, MDR, BR, WDR, dem Schweizer Rundfunk und diversen anderen Sendern ausgestrahlt. Außerdem sind Arbeiten, die u.a. in Zusammenarbeit mit dem Videokünstler Ulrich Polster entstanden, in Museen in Frankreich und Großbritannien zu sehen.

Im Mai 2008 erscheinen bei phantomnoise records eine CD sowie eine limitierte Vinyl-Auflage mit neu produzierten Werken von Heyde.

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Annäherungen an den Medienkünstler, Kurator und Publizisten Thomas Christoph Heyde

Feldman told that once when he came to Wolpe for a composition lesson, Wolpe said to him that he should write music with the man-in-the-street in mind. Feldman looked out the window and saw Jackson Pollock walking by. (Christian Wolff)

Die Antennen und Sendeanlagen, die in FROST III für Elektronik und drei Videomonitore (2003/04) zu sehen sind – sie könnten als Symbol für Heydes Schaffen und Wirken stehen. Heyde ist ein Breitbandempfänger, simultan tastet er mehrere Frequenzen und Sphären ab. Wenig liegt ihm ferner als das Schreiben im hermetisch abgeschlossenen Studiolo, dem Studierzimmer, in dem Renaissance-Gelehrte sophistische Abhandlungen verfassten ohne mit Kriegen und sonstigen Unannehmlichkeiten konfrontiert zu sein. Schon zu Studienzeiten verbrachte Heyde seine Nächte oft in Clubs, die Affinität zum Techno wird in seinem High-Culture-Motherfuckers für vier Schlagzeuger und Elektronik (2002/03) deutlich: eine vorwärts treibende Rhythmik ist da zu hören, die Sampletechnik erinnert an Heiner Goebbels – ein Komponist, der in seinen Seminaren die Welt der Technosounds mit Studenten diskutierte.

Das Interesse an dem nur scheinbar Prosaischen zieht sich in vielen Schattierungen durch das Oeuvre des 33-Jährigen. In der Betreffszeile einer Werbemail traf Heyde im Jahr 2002 auf den Titel Konfetti-Parade mit Hardcore Romantik. Diesen nahm er zum Anlass für seine gleichnamige Komposition, in der es “um das Verhältnis Mensch-Material/Material Mensch und die emotionale Verschönerung des Lebens durch höchst zweifelhafte Mittel geht.” (Heyde) Auf der auf-, ja erregend reichen Klaviatur der Erotik und des Sex spielt Heyde im Video zu CH-GS1978. Szenen für drei mobile Monitore, Elektronik und drei Blockflöten (2005/06). Zwei Knutschende und sich im Schritt Befummelnde begegnet man – wenn auch bekleidet – im Konzertbetrieb eher selten, solch direkte, ungebrochene Freude am Körperlichen gilt als wenig intellektuell.

Der französische Antidogmatiker Luc Ferrari war die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Andere “Grenzregionen” spielen im Oeuvre weitere Rollen. Heyde genießt die Schnittmengen, die sich weder bei ihm noch bei anderen Klangkünstlern auseinander dividieren lassen. Als Medienkünstler sieht er sich und der Zuschauer sein ausgeprägten Interesse an empirischer Realität. Meist in Tryptichen sind Straßenszenen oder auch Naturaufnahmen eingeblendet. Und je länger man die – gemeinsam mit dem gelernten Photographen Ulrich Polster – produzierten Videos zu CH-GS1978 oder FROST III anschaut, desto mehr beschleicht einen das Gefühl, dass Heyde die Abstraktheit der Musik überwinden will. Oder anders: dass er den Eindruck hat, dass die “reine” Musik den heutigen Rezeptionsgewohnheiten nicht mehr genügt.

Um im Bild zu bleiben, vom Empfänger zum Sender: Der dreifache Vater weiß um die Schwierig-, vermutlich Unmöglichkeit, im heutigen Betrieb auf Dauer von der freiberuflich betriebenen Komposition zu leben. Dies mag mit ein Grund sein, der Heyde zu seiner Kuratorentätigkeit getrieben hat, obwohl auch hier finanzielle Engpässe vorkommen sollen. Dem Kurator ist aber auch klar, dass der zeitgenössische Musikbetrieb – damit gewissermaßen auch die Musik – vor allem an der Trägheit des institutionellen Apparates krankt: jährlich sich wiederholende Festivals Wittener, Stuttgarter oder Berliner Prägung bieten weitestgehend traditionelle Ensemblemusik. Auf radiophone Eignung der Komponisten muss geachtet werden, schließlich produzieren die veranstaltenden Rundfunkstationen für ihre eigenen Sendegefäße.

Diesem weitestgehend vorhersehbaren Lauf der Dinge, den vor allem der nach dem dritten oder vierten Konzert erschlagene Besucher spürt, setzt Heyde im Rahmen des Forums zeitgenössischer Musik offenere Formen entgegen. Eine Devise heißt raus, raus aus dem aseptischen Konzertsaal, raus aus den sterilen und überholten Bedingungen gewohnter Musikinstitutionen. Aufführungen des Forums fanden schon statt in Clubs, in Kinos oder auf stillgelegten Bahnhöfen. Und an die Weltmusiktage, die 1995 im Ruhrgebiet von Eberhard Kloke und Gerhard Stäbler geleitet wurden, erinnern die Konzerte auf Abraumhalden und in der Fabrikhalle. 2005 rief Heyde das Projekt “heimat moderne” ins Leben, das aus einer Zusammenarbeit mit fünf Leipziger Gruppen und Institutionen resultierte. Es könnte als Globalisierungsphänomen, als neues Bekenntnis zur Region unter dem Eindruck einer egalitären Globalisierung gedeutet werden.

Aber – näher liegender – auch als Versuch, einen Kontakt zur Leipziger Bevölkerung herzustellen: Im Rahmen von “heimat moderne” programmierte Heyde Mauricio Kagels Performance Eine Brise: flüchtige Aktion für 111 Radfahrer, ein, so Kagel “musikalisch angereichertes Sportereignis im Freien”. In die Leipziger Innenstadt fuhren die Radfahrer und machten die Öffentlichkeit auf die Vitalität von Kollektivkompositionen aufmerksam. Auch so was soll es geben. Weitere Grundpfeiler der Arbeit des Leipziger Forums bestehen in der regionalen Einbettung. Kooperationen mit unterschiedlichen Leipziger Einrichtungen, unter anderem der überregional bedeutsamen Galerie für Zeitgenössische Kunst, sind der erste Schritt. Hinzu kommt die Integration von kleineren und mittleren Leipziger Betrieben, die als Gegenleistung für ihre Bereitstellung von Räumen oder brauchbarem Material am Entstehungsprozess der Kunst teilhaben können.

Um der besonderen Dynamik des heutigen Kunstbetriebs gerecht zu werden, verzichtet das “Forum zeitgenössischer Musik Leipzig“ auf einen größeren, langfristig etablierten institutionellen Apparat. Dies unterscheidet das Forum stark von den verfestigten Strukturen größerer Häuser, weniger aber von progressiven Oasen wie beispielsweise dem Berliner TESLA, ein Haus, dass sich ebenfalls auf Kunstformen spezialisiert hat, in denen neue Technologien und alternative Kunstkonzepte ihre bedeutende Rolle spielen.

Neben dem ohnehin viel kommunizierenden Komponisten und Veranstalter, der täglich Dutzende E-Mails, SMS oder Anrufe beackert, gibt bzw. gab es den diskurs- und streitfreudigen Publizisten (Heute ist es Heyde leid, als “enfant terrible” zu gelten.) Spitze Pfeile sandte Heyde unter anderem mit seinem Komponistenfreund, dem etwa gleichaltrigen Pèter Köszeghy aus. Es ging nicht nur um das Mekka der zeitgenössischen Musik, die Donaueschinger Musiktage. Sondern um einige Aporien Neuer Musik. Es steckte eine gehörige Portion Provokation, eine vielleicht etwas forsche, juvenile Angriffslust in den Thesen Köszeghys und Heydes. Dennoch trafen beide – zahlreiche Repliken, negative wie positive, spiegeln dies wieder – einige wunde Punkte. Die Verfestigung von Strukturen gehören dazu: Unübersehbar haben sich Verleger, Ensembles und Festivalleiter in den durch die öffentliche Hand finanzierten Rundfunk-Strukturen wohlfeil eingerichtet.

Mancherorts spielt eine gehörige Portion Antidemokratismus eine Rolle – die Problematik einer per se kunstfeindlichen Quotendiskussion wird mit einem Ärger über vermeintlich fehlendes Kunstverständnis einer “dummen Mehrheit” verwechselt. Heyde und Köszeghy führten die Diskussion letztendlich zu personalisiert. Die jetzige Situation der Neuen Musik ist nicht mehr und nicht weniger als das Ergebnis einer Subventionierungspolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit – eine recht unbequeme Erkenntnis, die Matthias Tischer beschrieb: “So hatten die Sowjets in ihrer deutschen Besatzungszone gegen das propagandistische Feindbild des ‘Untermenschen aus dem Osten’ (Goebbels) zu kämpfen, konnten aber gleichermaßen das alte Vorbild vom kulturlosen erzkapitalistischen US-Amerikaner instrumentalisieren.

Vice versa ließ sich im Westen Deutschlands auf einen weitgehenden antikommunistischen (oder russophoben) Konsens rekurrieren, während der Vorwurf der Kulturlosigkeit zu entkräften war.” Heute, in einer Zeit, in der die Neue Musik nicht mehr von bipolaren Gegensätzen profitieren kann, sieht die Situation anders aus. Der Rechtfertigungsdruck nimmt – wenig überraschend – zu; kein Prophet, wer Einrichtungen wie den Donaueschinger Musiktagen oder den Wittener Tagen für Neue Kammermusik keine Zukunft garantiert. Es ist an der Zeit, Alternativen zu entwickeln. Und es bedarf nicht einmal einer Feinjustierung der Antenne, um zu erkennen, dass diese eher fernab ausgehöhlter Konzertrituale und nur durch einschneidende institutionelle wie künstlerische Kurswechsel zu entwickeln sind.

Torsten Möller

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ca. 20 Konzerte/Performances, Workshop, Talks, Filme

Veranstalter: FZML, Moritzbastei, Cineding

Tätigkeit: Kurator, künstl. Leitung (FZML)